Es war Kiew.

POST VOM ARZT N° 1/2022


Blaue Krähen und weißer Vogel in einem Hinterhof in Kiew 2019
Blaue Krähen und weißer Vogel in einem Hinterhof in Kiew 2019
 

Ich denke an den Taxifahrer, der mich vom Flughafen Boryspil abholte. Er hörte lautstark Musik. Black-Metal bebte aus den Boxen. Draußen zog die Vorstadt vorüber. Riesige Fernsehwerbung vor schmucklosen Wohnblöcken. Der Taxler erzählte aus seinem Leben und lachte. Das war mein erster Eindruck von Kiew.

 

Im Zentrum eine rastlose Metropole. Breite Einkaufsstraßen, protzige Fassaden, große Parks, karg die Bäume im Dezember, kitschig die Weihnachtsbeleuchtung. Mein Hotel lag in einem frisch renovierten Altbauviertel, neu gepflastert, Shared-Spaces und Coffee-Shops ums Eck, und es ging steil nach oben und unten. Fußläufig erreichte ich das nahe Podil-Theater. Aktuelle europäische Stücke. Gegenüber lag das Michail-Bulgakow-Museum. Eben hatte ich begonnen «Meister und Margarita» zu lesen. Den Hügel runter ging's zum Theater-Koleso. Dort hing ein Foto von mir. Mein Stück «Grillenparz» wurde auf Ukrainisch gezeigt. Es war der Tag der Premiere. Das Publikum lachte bei den Pointen und war schockiert, wenn Gewalt kam. Es war hingerissen und angeekelt – alles wie üblich. Hernach wurde getrunken. Gefeiert.

 

Als ich in den Abend hinausfiel, war ich beglückt. Das Wetter war sonderbar mild. Die Stadt lud zum Flanieren ein. Sie war riesig. Ich ging ziellos. Es gab die touristischen Ecken und die dreckigen Seitengassen, Kulturerbe und Bausünden, gewagte Architektur und verwahrloste Bruchbuden. Es gab Fair-Trade-Shops im U-Bahn-Schacht und düstere Unterführungen mit Drogen-Junkies, stark befahrene Hauptverkehrsadern und Gruppen von Jugendlichen, die in Feierlaune über den Gehsteig taumelten – alles wie üblich. Es gab ein Riesenrad, es strahlte weithin sichtbar. Es gab Leerstand und improvisierte Projekte, die am Entstehen waren. Galerien! Ein Viertel voll junger Kunst! Eine Vernissage! Eine Bar, an der man gut Wein trinken konnte und mit dem Glas in der Hand die Bilder betrachtete.

 

Ich versuche mich zu erinnern. An die Bilder von damals in diesem industriell anmutenden Ausstellungsraum, der nicht Berlin war, nicht Paris und nicht New York. Es war Kiew. Da war die Barkeeperin. Der alleinstehende, extravagante Typ. Die entspannt rauchende Gruppe am Fenstersims. Das junge Paar, das sich verliebt einhakte und über die Lichtinstallation sinnierte, die sich im Raum regenbogenfarben brach. Ich trank ein nächstes Glas, notierte irgendwas vor mich hin, hatte die Hoffnung, übers Überwinden von Grenzen schreiben zu können und fühlte mich ertappt von meinen Vorurteilen. Die Ukraine war bis dahin ein leerer Raum für mich gewesen. Eine mutmaßliche Weite ohne Gesicht, irgendwo östlich von Wien. Nun hatte sie Kontur bekommen. Nun schrieb sie sich in mich ein (auch wenn ich die Notizen von damals nicht mehr finde). Nun fühlte ich eine sonderbare Verbundenheit.

 

Das Kiew jener Nacht gibt es nicht mehr. Es ist zu spät. Entgegen meinen Vorsätzen, bin ich nicht noch einmal zurückgekehrt. Über die Überwindung von Grenzen zu erzählen und so zu tun, als sei Europa überall Europa (alles wie üblich?) ist entlarvende Selbsttäuschung. Während ich in Wien diese Sätze schreibe, sterben in der Ukraine Menschen.

 

Ich erinnere mich weiter. Dezember 2019. Ich stand vor einer Tafel. Groß, auf einem öffentlichen Platz. Sie zeigte tagesaktuell an, wie viele Soldaten verwundet wurden, wie viele gefallen waren. Es waren drei Tote in jener Woche. Es herrschte bereits Krieg und ich weiß noch, ich stand in befremdlicher Unruhe vor dieser Tafel. Bizarr und doch absolut klar markierten blaue und rote Männchen das zum Alltag gewordene Sterben.

 

«Die Menschen hier haben gelernt, zu improvisieren», so erklärte es mir Flo aus Österreich. Er arbeitete an der Taras Shevchenko Universität. Sabrina, eine Studentin aus seinem Kurs, zeigte mir am Tag der Theaterpremiere ihre liebsten Ecken der Stadt. Es kommen mir Tränen, wenn ich an diese Begegnung nun zurückdenke. Und an den Platz im Hinterhof, wo ein Café eröffnet hatte, das ich ohne sie nie gefunden hätte. Auf der unverputzten Wand einer Häuserzeile ein riesiges Bild mit blauen Krähen, unter ihnen ein weißer Vogel.

 

Sabrina erzählte von ihrem Nebenjob im Call-Center. Sie betreute Kunden, die aus ganz Europa anriefen und nicht wussten, dass sie mit einer Frau in der Ukraine sprachen. Sie erzählte von ihrer Mutter, die in Donezk lebte und Yoga machte, während vor ihrem Fenster Schüsse fielen. «So ist das hier.» Die unerhörte Leichtigkeit unserer Unterhaltung von damals trifft mich heute schwer.

 

Das Kiew jener Tage gibt es nicht mehr. Ich habe keine Ahnung, wie es Sabrina geht. Ob Flo rechtzeitig die Stadt verlassen konnte. Ob der Taxler nun in den Krieg gezogen ist, Black-Metal im Ohr. Ob die Kämpfe das Liebespaar aus der Galerie getrennt haben, während Raketen statt Lichtinstallationen den Raum queren. Ob die Schauspielerinnen und Schauspieler, die meinem Stück ihre Stimme gaben, nun Waffen tragen. Ob die herzensgute Intendantin des Theater Koleso nun mit 60 Jahren einem Panzer gegenübertritt und ihre Nationalhymne singt. Ob der wunderbare Andrej Kurkow, mit dem ich ein Gespräch führen durfte, im Ausland weilt und einen literarischen Gegenangriff plant oder angesichts von Bestialität und politischem Verbrechen sprachlos um seine Liebsten bangt.

 

Das alles ist so traurig und macht wütend. Vor allem der Satz: Jetzt ist es zu spät. Ich hatte damals das Gefühl, ein übersehenes Nachbarland kennenzulernen und doch nicht wirklich zu überblicken, wo die Gräben seiner Geschichte und Gegenwart verliefen. Heute ist kaum ein Graben mehr da, der friedlich überwunden werden könnte. Auch ich habe ganz gut gelebt seither und meine alte Wohnung mutmaßlich zu 80 Prozent mit russischem Gas geheizt, was in der Summe des Ganzen die Basis des Krieges mitfinanzierte. Es ist zu spät für Unschuldsbeteuerungen. Wir stecken tief drinnen. Nichts ist hier so leicht wieder gut zu machen.

 

Ich folge den Nachrichten und stelle erste Säcke mit Sachspenden vor die Türe. Wir werden sie in ein Hotel bringen, das kurzerhand nun Zimmer für Geflüchtete zur Verfügung stellt. Ja, wir reden wieder von Quartieren. Von Fluchtrouten. Von Molotowcocktails und Waffenlieferungen. Von «militärischem Gerät». Es rollte vorgestern vor unserem Auto auf der A1. Wir waren am Heimweg. Die Kampffahrzeuge fuhren aufs Schlachtfeld. Bizarr und doch absolut klar klingen diese Sätze.

 

Ich finde es wichtig, mir nichts schönzureden. Ich nehme Anteil und stehe doch in Sicherheit. Ich stehe in grausamer Passivität. Erzählen bedeutet, die eigene Ohnmacht zu bezwingen. Schreiben ist Verpflichtung an der Welt. Erinnern ist ein Anfang. Aber Veränderung der Verhältnisse braucht mehr. Es gilt, darüber zu berichten, wie es so weit kommen konnte. Nicht zu relativieren, wie sehr friedliche Gesellschaften an ihren Randgebieten Zonen der Gewalt tolerieren. Nicht zu vergessen, was wir selbst verabsäumten. Laut und ungemütlich zu bleiben. Und aktiver zu handeln. Der Verzicht auf russisches Gas und die Einsicht, dass Frieden teuer ist, auch für uns, wäre so ein Schritt.

 

(Wien, 8. März 2022)


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