Rassismus entsorgen.

POST VOM ARZT N° 1/2023


Im Eingangsbereich unseres Wohnhauses bemerkte ich ein Hakenkreuz. Erst nur im Vorübergehen, dann stoppte ich, kehrte um: Tatsächlich! Am Fenstersims, auf dem regelmäßig Bücher zur freien Entnahme liegen, lehnte großformatig ein zweiteiliger Bildband: Die Olympischen Spiele 1936 in Berlin und Garmisch-Partenkirchen. Das Hakenkreuz prangte unverhohlen am Schutzumschlag. Die erste Seite zeigte Adolf Hitler als «Führer und Gastgeber» eines sportlichen Großereignisses. 

 

Mein erster Gedanke: Weg damit in den Müll! «So etwas» sollte nicht «einfach so» rumstehen! Dann aber stockte ich. Ich überlegte, wer im Haus denn die Bücher dort hingestellt haben könnte. Unter «wessen Staub» und aus «welcher Vergangenheit» sie zum Vorschein gekommen waren. Oder ob sie jahrzehntelang «unbedarft» im Regal ruhten, ehe man sie «ohne Hintergedanken» ausrangierte. Sie standen hier in «verwegen unschuldiger Gesellschaft», flankiert von einem schnulzigen Liebesroman, einem Werk zur Malerei «Alter Meister» und einem Historienschinken über das «Reich der Inka». Ob ich die Nazipublikation ins Museum bringen sollte? War es denn derart «relevant» oder gar «gefährlich», was ich in Händen hielt? Und was war es denn im Genauen, was diese Propagandaschrift zu vermitteln suchte?

 

Ich nahm die NS-Lektüre also mit in die Wohnung und begann vergilbtes Papier zu durchblättern. Ich vermisste schlagartig den mir gewohnten Schutzraum (bisher las ich Nazischeiß nur im Archiv). Ohne historisch-kritische Rahmung wirkte der Inhalt plötzlich «seltsam lieblich». Ich war etwa über die ausgestellte Begeisterung für Jesse Owens, dem Star der Spiele, überrascht. Musste er nicht für Hitlers Regime als «entartet» gelten? Als «kulturloser Barbar»? Doch Begriffe wie diese vermied das Werk von 1936. Es pries das Sportliche. Inszenierte strahlend die «deutschen Mädels» vor hakenkreuzgesäumten Prachtbauten, wusste die Erfolge der «deutschen Kämpfer» auf deren «Willen» und «Moral» zurückzuführen und zeigte Berlin als diplomatisches Parkett, auf dem der Diktator Hitler von internationaler, geschäftstüchtiger Politik umringt wurde.

 

Es ging mir plötzlich so, als betrachtete ich einen Bildband über Olympia 2014 in Russland. Als würde mir vor Augen geführt, wie einem Kriegstreiber auf scheinbar «unverdächtigem Terrain» die Füße geleckt werden, weil sich irgendwer irgendwas davon verspricht. Bizarr könnte man es nennen. Widerlich. Oder blind. Letztlich erzählt Geschichte immer erneut vom Kalkül des Machterhalts und der Gier nach dem Geld. Wie lange werden Verbrechen toleriert, um Eigeninteressen zu wahren? Welche Kriege werden «in Kauf genommen», ohne ernsthaften Widerspruch? Was muss passieren, bis eine Gesellschaft «die Verlogenheit der Bilder“ benennt und dagegen aufsteht? Was ich auf meinen Schreibtisch gelegt hatte, war nicht «Mein Kampf». Kein offenes Bekenntnis nazistischer Ideologie. Es war nicht mehr, aber auch nicht weniger als das ausgefeilte Handwerk einer systematischen Verschleierung: Gestochen scharfe Bilder von «fröhlich unpolitischen Menschen». Keine Angst, sagte das Buch. Ich bin nicht der Feind. Lass mich in dein Herz! Oder: Wenn schon die halbe Welt zu mir auf Besuch kommt, was fürchtest du?

 

Jetzt erst bemerkte ich, dass der Radio lief. Dass im Hintergrund meiner Nazilektüre von aktuellen Nachrichten die Rede war. Von einer selbsternannten «Heimatpartei» im erneut radikalen Aufwind. Von Wähler:innen, die rechtsextreme Aussagen tolerieren, weil sie sich wieder irgendwas von irgendwem versprechen. Von einem Landesrat, der vor laufenden Kameras Schüler:innen aufgrund ihrer Herkunft rassistisch diffamiert. Dass Neonazis wieder Banner hissen und die Botschaft des Landesrates gehässig «weiterspeien». Und davon, dass dies weitgehend hingenommen wird: Kurze Empörung, dann zurück zur Routine. Ein verharmlosendes Achselzucken rauscht durch die Echoräume.

 

Da fiel mein Blick auf eine Bildunterschrift im Buch von 1936. Ein Foto zeigte einen Langstreckenläufer aus Italien. Daneben saß ein Läufer aus Indien, der sein Haar von einem weißen Band befreite. Er hatte es sich nach oben gebunden. Der italienische Kollege war sichtlich erheitert, lachte mit offenem Mund. Der Kommentar unter dem Schnappschuss: «Der Italiener» fände «den Inder» wohl «zum Schießen». Für kurz tat sich ein Abgrund zwischen den Zeilen auf. Und grausig hörte ich schenkelklopfendes Gelächter einschlägiger Bierzeltveteranen aus dem Radio. Die Wähler:innen der wieder erstarkenden «Heimatpartei» würden johlen, bei so einem Satz vom «Schießen».

 

Ich wollte spucken. Ging los, ein Feuerzeug zu holen, um die Bücher im Innenhof offen zu verbrennen. Aber wäre es «das Richtige» – Feuer mit Feuer? Also klappte ich meinen Rechner auf und recherchierte unter dem Satz: «Nazibücher gefunden, was tun?» Die ersten Treffer in der Suchmaschine zeigten einen sehr lukrativen Umgang mit der Vergangenheit. Auf einer Website wurden die zwei Bände über Olympia 1936 gleich 24mal feilgeboten und um bis zu 60 Euro verhökert. Ob man sie in den Müll werfen sollte, beantwortete mir die Suchmaschine nicht. Harald Schmidt, so ein Eintrag, würde dies jedenfalls nicht tun – der deutsche Satiriker plädiere dafür, sie historisch zu markieren. Wie im Allgemeinen mit Nazi-Devotionalien umzugehen sei, thematisierten gleich mehrere Zeitungsartikel der letzten Jahre. Die Frage war heiß diskutiert und u.a. Inhalt der Ausstellung «Hitler entsorgen». 2021 war sie im Haus der Geschichte Österreichs zu sehen. Ich erinnerte mich. Und ärgerte mich nun, sie nicht besucht zu haben.

 

Tags darauf holte ich meinen Museumsbesuch nach. An der Museumskasse wurde mir mitgeteilt, dass dies keine Sammelstelle sei. Aber zumindest eine Mail-Adresse einer umsichtigen Kuratorin verriet mir der Mann hinterm Pult. Ich schrieb ihr. Sie antwortete umgehend. Sehr einleuchtend. Dass es sich bei dieser Sache wohl um «Massenware» handle. Und dass das jeweilige Narrativ, der Kontext eines Fundes entscheiden würde, ob etwas aufbewahrt werden sollte oder eben nicht.

 

Letztlich lag es also wieder an mir. Ich wünschte mir plötzlich eine Nazischeiß-Entsorgungs-Institution. Wird «toxischer Müll» nicht derart gesammelt und vernichtet, dass es zu keiner Gefährdung der Umwelt kommt? Sind die Hakenkreuz-Bücher nicht ebenso «giftig» für eine Gesellschaft? Ich wollte sie schlagartig loswerden und stand wieder am Anfang. Um meiner Panik entgegenzuwirken, irgendwelche Neonazis könnten in unserem Müllraum die Dinger wieder aus der Tonne fischen, zerriss ich den Schutzumschlag samt Hakenkreuz (ein Ratschlag der Kuratorin), dann die kompletten Bücher und katapultierte alles in den Papiermüll. Damit hatte sich die Sache.

 

Eine Zeit lang ging ich dann noch mit «ungutem Gefühl» am Fenstersims im Eingangsbereich unseres Wohnhauses vorüber. Dort lagen mittlerweile neue Bücher zur freien Entnahme, genau an jener Stelle, wo ich die NS-Lektüre vorgefunden hatte. Nichts deutete mehr daraufhin, dass etwas vorgefallen war. Es verging eine Woche. Schließlich entschied ich mich, doch noch «ein Zeichen zu setzen». Ich schob die Bücher zur Seite, den Liebesroman, das Werk über die «Alten Meister», stellte eine Kerze auf, mit Batterie, und dahinter klebte ich einen Zettel aufs Fenster:

 

LIEBE MENSCHEN IM HAUS. HIER STANDEN KÜRZLICH ZWEI BÜCHER AUS DEM JAHR 1936. ES WAR KEIN «UNSCHULDIGES WERK» ZUR FREIEN ENTNAHME. FÜR DAS VERSTÄNDNIS, WAS BÜCHER ALLES ANRICHTEN, VORLÜGEN ODER AUCH VERSCHWEIGEN, BRAUCHT ES KOMMENTARE. DAS HIER IST EIN KOMMENTAR: DIE ZWEIBÄNDIGE AUSGABE ÜBER DIE OLYMPISCHEN SPIELE 1936 IN BERLIN UND GARMISCH-PARTENKIRCHEN, MIT DEM HAKENKREUZ AM COVER, ZEIGT EIN GEFÄHRLICH VERHARMLOSENDES BILD DES NAZI-REGIMES, INDEM AUF SCHEINBAR «UNPOLITISCHEN» FOTOS DARGESTELLT WIRD, WIE «ALLE WELT» BEI HITLER VERMEINTLICH «FRIEDLICH» ZU GAST WAR. ABER ES GIBT KEINEN FRIEDEN MIT KRIEGSTREIBERN UND MASSENMÖRDERN. DIE BEIDEN BÜCHER VON 1936 SIND NS-PROPAGANDA. ICH HABE SIE IN DEN MÜLL VON 2023 GESCHMISSEN. - - ES FEHLEN AN DIESER STELLE DIE WORTE FÜR DAS, WAS AN VERBRECHEN DURCH DAS NAZI-REGIME BEGANGEN WURDE. DAHER BRENNT HIER EIN LICHT. BITTE IN DEN NÄCHSTEN TAGEN BRENNENLASSEN.

 

(Wien, 8. Februar 2023)


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