Was hält.

POST VOM ARZT, N° 2/2021


Wie sie schonungslos optimistisch den Umständen trotzt.
Wie sie schonungslos optimistisch den Umständen trotzt.

Meine ältere Tochter zieht sich die Schuhe an, die sie meist verkehrt rum anzieht, und gibt ein erstaunliches Gedicht von sich: «Es hält, es hält, ich geh' in Welt.» Verdutzt höre ich dem Singsang der Dreijährigen zu. Mehrmals ist uns schon aufgefallen, wie oft sie das Wort «Welt» in ihre Sätze einfließen lässt.

 

Meine Frau und ich führen es auf ein Kinderlied zurück, dass ihr eine der Omas vorgesungen hat, mit der Textzeile: «Platsch, die ganze Welt ist nass.» Mit stets erfrischendem Lachen, als wär's das erste Mal, wiederholt sie diese Feststellung einer vom Regen durchnässten Welt in losen Abständen, schüttelt dabei meist erheitert den Kopf, gern allerorts, auch mal am Klo sitzend. Ob mittlerweile ihre Weltvorstellung vom Zustand des Liquiden («Platsch, die ganze Welt ist nass.») in eine der Stabilität überführt wurde («Es hält, es hält, ich geh' in Welt.»), mag als These lieber etwaigen Proseminaren überlassen sein («Einführung in die kindliche Poesie», oder so). Stolz macht mich ihr Reim auf jeden Fall, der ja fast als Aufruf gelesen werden kann. Als unerschrockene Ansage.

 

Sie geht ja tatsächlich immer mehr, wie es heißt, «in die Welt hinaus». Lässt mich zurück, will Dinge ganz für sich alleine machen, erlebt einen nicht unerheblichen Anteil des Tages in ihrer Kindergartengruppe, trägt Geheimnisse in sich, erfährt Zuspruch und Ablehnung, erzählt von Vorfällen, bei denen ich nicht dabei war, gestaltet sie aktiv mit, diese Welt. Und damit auch meine. Und sie macht es immer noch verwegen optimistisch, lässt sich von Gegenwind selten unterkriegen, ist verblüffend souverän und cool gegenüber Älteren, auch in Situationen, die ich selbst noch in späteren Jahren lieber gemieden hätte, hat ihren nach vorne drängenden Dickschädel und eine mir lieb gewonnene Weltzugewandtheit.

 

An manchen Tagen aber, wenn wir wieder die Schuhe anziehen, um in einen neuen Tag aufzubrechen, stocke ich. Ich würde sie gerne warnen. Viel zu Vieles drängt sich mir derzeit auf, das schreit: «Nichts hält! Nichts hält! Es brennt die Welt!» Ich denke an die Abendnachrichten von gestern, das Nacheinander und Nebeneinander von Krisenherden, an den wachsenden Frust Mancher und neuerdings Vieler, ablesbar in den mehr und mehr frustriert dreinschauenden Augen auf der Straße, in der U-Bahn, an das, was, so hört man, so will's gehört sein, zu einer «kollektiven Wut» anwächst. Einem «Volkszorn», der sich unverschämt plötzlich vor mir an der Supermarktkasse entlädt, anstatt in umsichtigen Diskurs und nachhaltige Kritikfähigkeit überführt zu werden: «Kassa Zwei, scheiße, geh' leckt's mich, ich hab nicht den ganzen Tag, Arsch, ich hab eine Existenz, echt! Kassa Zwei, sonst spielt's Granada....»

 

Das alles hab ich im Ohr, während sich meine Tochter mit dem linken Schuh abmüht. Ich schluck kurz. Stell mir vor, mit ihr über die Gefahren des Populismus zu diskutieren. Über den Verlust von Wohlstand und Sicherheit. Über prekäre Ungleichheit und berechtigte Sorgen, und über jene, die diese Sorgen berechnend ausnützen, um sorglos zu zündeln und Prekäres neu mehrheitsfähig zu machen...

 

Da schaut sie mich an, meine Tochter. Hoppla! Wieder der falsche Fuß im falschen Schuh. Ich verwerfe meinen Weltzweifel, kämpfe gegen die Tendenzen an, die mir eine drohende Verzweiflung einreden wollen, und helfe ihr. Dann brechen wir auf und ich schaue ihr später eine Weile aus der Distanz zu, wie sie in ihre Kindergartengruppe läuft. Wie sie schonungslos optimistisch den Umständen trotzt.

 

An jenem Tag, an dem sie mir erstmals weinend gegenübersteht und vorwirft, wie «scheiße» nicht alles sei und wie sehr ihr «der Boden unter den Füßen» wegbricht, werde ich da sein. Dann reimen wir weiter an dieser Welt. Im Reimen entstehen neue Zugänge. Im Reimen zerfallen alte Schemata. Jeder Reim, der sich querstellt, zur Welt, ein wunderbar renitenter Versuch, es besser, es anders zu machen. Das ist ein Versprechen! Und das hält. Das hält.

 

(Wien, 9. März 2021)


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