Dann hob sie ab.

POST VOM ARZT N° 2/2022


Echt ein guter Anfang für ein echt beschissenes Jahr.
Echt ein guter Anfang für ein echt beschissenes Jahr.

Ich denke an die kleine Amsel, die bei uns im Innenhof in der Regenrinne festsaß. Gestrandet in ihrem Gefängnis. Ummantelt von Metall. Meine jüngere Tochter wurde auf das Unglück aufmerksam. Sie deutete auf die Stelle, wo Flügelschläge aus dem Inneren des Rohres hörbar waren. Die Ältere war fassungslos. «Ein Vogel, Papa? Da drinnen?»

 

Wir wussten nicht, wie wir ihn rausholen sollten. Er musste sich am Dach in der Rinne verfangen haben und die sieben Stockwerke in die Tiefe gerodelt sein. Nun saß er in der Falle. Ich versuchte, das Rohr zu lockern, eine Öffnung zu finden, die Kinder wurden unruhig. Eine Nachbarin kam, sprach von der «Tierrettung», die zu verständigen sei. Wegen eines Vogels? Keine Ahnung, ob der noch lebensfähig? Die Aktion erschien mir erst übertrieben. Sterben gehöre halt zur Natur... Meine Güte, dann hat's jetzt den Piepmatz erwischt... Dann die Blicke meiner Kinder. Die mahnenden Worte der Nachbarin. Der Gedanke an den Vogelkadaver, der da drin vor sich hin stinken würde. Oder erledigt das der nächste Regen?

 

Es war Anfang des Jahres. Drei Tage nach Silvester. Und vor unseren Augen und Ohren ein Überlebenskampf. Ich tippte ins Handy: Vogel in Dachrinne! Etliche Kommentare: Die Feuerwehr sei zuständig. Ich rief direkt bei der Wache an, keine 200 Meter entfernt von unserem Wohnhaus, erklärte die Sachlage, wurde anschließend gebeten, den Notruf zu wählen: 122! In überraschend unaufgeregter Routine verlief der Rest.

 

Mit Blaulicht bog prompt ein glänzend roter, riesiger Feuerwehrwagen ums Eck, ausgerückt zur Rettung des Piepmatzes. Fünf Männer in Uniform, mit Helm und für alles gerüstet, sprangen vom Gefährt, schritten fokussiert, mit ernster Miene, durch den Hauseingang. Meine beiden Töchter und ich staunten beeindruckt. Sie marschierten in den Innenhof, schwangen sich leichtfüßig über den kopfhohen Zaun ins Gartengrundstück, zum Ort des Unglücks. Ich hatte dies selbst zuvor versucht, zur Inspektion des Rohres, und zwei Gartenstühle stapeln müssen, um das Hindernis zu überqueren! Hier waren nun Feuerwehrmann Sam, Paw Patrol, Peppa Wutz und alle anderen Held:innen meiner Kids am Werk und in wenigen Minuten war die Rinne gelockert, ein Tierkäfig zur Stelle und mit der wohltuenden Souveränität unserer Hebamme, die bei den Geburten meiner Töchter dabei war, verkündete ein Feuerwehrmann: «Sie lebt. Es ist eine Amsel.»

 

Da saß sie also. Verängstigt. Zerzaust. Ein kleines schwarzes Bündel. Ich glaubte das Mini-Herz pochen zu sehen. Dann hob sie ab. Ich stand beschämt, hatte ich die Aktion doch erst für unsinnig gehalten. Überflüssig. Wog ich doch hochnäsig Argumente ab: Wie groß wäre die Wahrscheinlichkeit? Mache ich mich lächerlich mit meinem Hilferuf? Vermutlich stirbt es ohnehin, das Tier! Ich sah uns bereits als Zeug:innen eines tragischen, doch unvermeidlichen Endes. Opfer wären eben hinzunehmen! Und zynisch wollte ich bereits die Kinder rauf in die Wohnung schleppen, das Gezeter und Getrommel verdrängend... Stattdessen strahlten nun alle. Am meisten ich selbst. Scheiße, es war nur ein Vogel! Aber es war echt ein guter Anfang für ein echt beschissenes Jahr.

 

So rasch sie gekommen waren, so lautlos verschwanden sie: Sam, Paw Patrol, Peppa Wutz, der kleine und der große Hase, Maus und Elefant, die kleine Prinzessin, der Panda Bär namens «Stilles Wasser», und der kleinste unter den Feuerwehrmenschen kam mit einem Formular: «Ihre Unterschrift, bitte.» Ich bedankte mich, gerührt. Er bedankte sich bei mir. Für den Anruf.

 

(Wien, 2. Juni 2022)


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