Sichere Orte.

POST VOM ARZT N° 3/2021


Manchmal wird Sicherheit zum Sehnsuchtsort.
Manchmal wird Sicherheit zum Sehnsuchtsort.

Wir nannten es Boot. Es war Zufluchtsort, Zone partiellen Friedens, Stopp im kindlichen Spiel. Es war für uns selbstverständlich. So erklärte ich es Jahre später auch meiner eigenen Tochter: Wer «im Boot» steht, wird in Ruhe gelassen. Nur musste ich gestern erfahren: In Wien gibt's gar keins. Unser Nachbarjunge sagt «Leo» dazu. «Das Leo» ist für die Kinder Wiens der sichere Hafen beim Fangenspielen. Dabei weckt das Wort in mir keinerlei Assoziationen von Sicherheit. «Boot», wie es im südlichen Oberösterreich heißt, schon eher. Wobei ich dies mit Blick auf die Abendnachrichten sofort revidiere, sind doch Boote im Zusammenhang mit Flucht vor allem Orte sozialer Not und Symbol politischen Versagens sowie wohlstandsbequemer Kaltherzigkeit. Also doch lieber Leo statt Boot.

 

Wieso eigentlich Boot? War's im Salzkammergut am See sicherer als an vermeintlich wilden Ufern? Meine Frau schickt mir daraufhin einen Link zu einem Atlas der Alltagssprache. Meine einstige Überzeugung, überall im deutschsprachigen Raum flüchten sich Fangenspielende in Boote, verpufft. Ich lerne, dass es im Süden der Steiermark und des Burgenlands die «Rast» ist, die die Spielenden ansteuern – an Orten schöner Wanderwege und guten Weins macht das Sinn. Im Innviertel und in Bayern ist es die «Bude» – entlarvend ehrlich, denn wo sonst sollte das dortig beheimatete Sicherheitsbedürfnis besser beschworen werden. In Tirol spricht man wiederum vom «Himmel» – die letzte Sicherheit scheinbar, die bleibt, im erzkatholischen Lande. Auch in der Schweiz flüchtet man nach oben, und zwar ins «Hoch» oder ins «Höch» (ob's droben am Gipfel tatsächlich sicherer ist, als drunten im Tal, ist zu bezweifeln).

 

In Deutschland bleibt man bodenständiger: Von Nürnberg, Würzburg, Stuttgart, Frankfurt über Erfurt nach Berlin retten sich die Fangenspielenden am liebsten ins «Haus» – zivilisationsgeschichtlich wohl am schlüssigsten, nur doch etwas spießig. Die Kölner Kids dagegen machen's kurz: Wer eine Pause braucht, sagt «aus»! Nach Norden hin wird’s wieder poetisch. Hier kommt der «Pott» ins Spiel. Oder das Pott? Zugegeben, es fehlt mir die Kenntnis der jeweiligen Spiel-Praxis. Bitte also um Post hierzu von Ortskundigen. Das betrifft auch den Osten Deutschlands, denn dort ist von «Zick» die Rede – oder «Zicke», «Zippe»? Klingt rätselhaft, oder nach Ziege.

Manchmal wird die Sicherheit, so lerne ich weiter, auch zum Sehnsuchtsort – so flüchten die Kinder entlang der Drau scheinbar gern auf «Inseln». In Passau stellt man sich dagegen ins «Loch». In Aalen in die «Grube». Und in Neu-Ulm ruft man «Gift» – denn es ist nicht von der Hand zu weisen: Will der verfolgte Mensch sich Ruhe verschaffen, ist allzu oft Gegenwehr nötig.

Mein Blick streift weiter über diese bemerkenswerte Topografie der sicheren Häfen. Und ich merke: Die Landstriche sind durchlöchert von Orten, die die Spielregel des Asyls gar nicht kennen. Oder nicht akzeptieren. Oder wo ein Recht darauf nicht mehrheitsfähig ist. An diesen Stellen wird verfolgt und gefangen bis zum bitteren Ende – das nüchtern-realistische Szenario also. Auch meine Frau bestätigt mir: In ihrem Tal gab's keine Schutzzone, keinen Anker der Menschlichkeit, keine Rettung für alle. Der erneute Blick auf die Abendnachrichten bestätigt, wie sehr die Utopie meines kindlichen Bootes lachhaft ist – anstatt Diplomatie und Waffenruhe herrschen weltweit Kapital und Bombenhagel (Frieden ist nur der fragile Zustand zwischen den Kriegen).

Also nur naives Kinderspiel, diese Sache mit den Booten? Oder dem Leo? Es lohnt dann doch in die historische Tiefe zu gehen, denn siehe da: Es gibt sie, die Relikte politischen Reformwillens und punktueller Menschlichkeit! Im Mittelalter war's. Da setzte sich Leopold VI. (den man den Glorreichen nennt) vor über 800 Jahren für die Rechte der Ausgegrenzten ein. Er bestimmte, so lehrt mich ein Artikel in der Furche, „einige Stellen in Wien, die einen Verfolgten vor Rache, Lynchjustiz und sofortigem Polizeizugriff schützen konnten, wenn er sie rechtzeitig erreichte.“ So zum Beispiel der Asylring an der nördlichen Außenwand des Stephansdoms.

Augenblicklich stocke ich und wünsche mir einen ähnlichen Ring, riesig, überdimensioniert, damit er um den ganzen verfluchten Kontinent reicht.

 

(Wien, 21. Mai 2021)


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