Und sie ist da. Geboren vor zwei Wochen. Kurz nach Zwölf. Von Ärzten in einen Brutkasten gelegt, erstversorgt und auf die Intensivstation gebracht. Denn sie kam viel zu früh, medizinisch gesehen. Ich sitze nun an ihrem Bett und es trennt uns eine durchsichtige Plastikwand. Ihr Essen sickert über einen Schlauch in ihren kleinen Bauch. Sie atmet und streckt Arme und Beine von sich. Nein, sie ist nicht zu früh, persönlich gesehen. Sie kommt zur rechten Zeit.
Denn draußen, jenseits der durchsichtigen Plastikwand, wird gerade alles vorbereitet, um die Gesellschaft zu verändern, in die meine Tochter geboren wurde. Noch vor zwei Monaten hatten ihre Mutter und ich für eine andere Gesellschaft gestimmt. Es sollte eine weltoffene sein, und eine freie. Eine, die sich solidarisch zeigt, mit Armutsgefährdeten, Schutzlosen und Benachteiligten. Die darauf achtet, dass Einkommensunterschiede geringer werden und soziale Netze gestärkt. Die darum weiß, dass Verantwortung nicht jenseits durchsichtiger oder undurchsichtiger Wände und Mauern endet. Meine Tochter ist derzeit angewiesen auf Hilfe, die ich ihr nicht geben kann. In solchen Momenten blickt man anders auf vorhandene Systeme, die viel Geld kosten und dennoch da sind – für alle. Auch für Mohammed im Wärmebett gegenüber. Für Oscar schräg im Eck. Leonie in Raum Zwei. Bashar gleich neben mir. Und die anderen Frühchen auf der Neonatologie.
Doch nun ist auch SIE da. Angelobt vor zwei Tagen. Kurz vor Zwölf. Die neue Regierung. Sie war zu erwarten, politisch gesehen. Und AN DER ZEIT, wie manche es nennen. Denn zu lange sei zugeschaut worden, wie diese Manchen es sagen, denn es seien nicht alle gleich zu behandeln. Es gäbe den Unterschied der Leistung. Gekoppelt an den Unterschied der Herkunft. Und das macht mich wütend.
Ich schaue derweil der Muttermilch zu, wie sie oben von der Ampulle durch den dünnen Schlauch nach unten tropft. Ich frage mich, was ich nun tun kann, was ich meiner Tochter geben kann, abseits der Milch, die ihre Mutter für sie abgepumpt hat. Ich drücke den Hebel an der durchsichtigen Plastikwand zurück, öffne die kleine Luke, stecke meine Hand hindurch und berühre sie sehr vorsichtig – vor Kurzem erst geboren, IN DIESE ZEIT. Und nein, denke ich, es ist ganz und gar nicht an der Zeit, dass diese Regierung neue Gesetze beschließt, die nachjustieren sollen, wo Versäumnisse passiert wären, denn diese Justierung wird das, was ich Gegenwart nenne, in vielen Belangen zurückdrehen, ins Vergangene. Diese Regierung agiert GEGEN MEINE ZEIT und jene meiner Tochter.
Ich lege meinen Mund also in die Öffnung und gebe ihr das, was ich geben kann: ich spreche sie an.
Da ist die Muttermilch nun im Bauch meiner Tochter angelangt. Und ich spüre, wie ihre Hand plötzlich eigenwillig gegen die meine drückt, und einen Widerstand bildet.
(Wien, 20. Dezember 2017)