Von Schmerz und Poesie

Abgedruckt in: OÖN 24.12.2022


Es braucht bessere Worte für sehr schlechte Zeiten. Es braucht Begriffe, die den Rissen im Weltgefüge nachjagen, sie fassbar machen, damit Übergänge entstehen, Durchlässigkeit statt Verkrustung...
Es braucht bessere Worte für sehr schlechte Zeiten. Es braucht Begriffe, die den Rissen im Weltgefüge nachjagen, sie fassbar machen, damit Übergänge entstehen, Durchlässigkeit statt Verkrustung...

Manchmal denke ich noch an das Gedicht. Ein Kinderreim, entstanden für meine erste Tochter. Sie lag auf meinem Arm, ich schunkelte sie spätnachts in den Schlaf. Ich hatte es mit Hopsen versucht, Tanzen, irgendeinem Singsang. Dann fielen mir die Zeilen ein. So wie heute. Auch wenn meine Kinder mittlerweile zu schwer geworden sind, zum Schunkeln auf einem Arm, die Verse sind noch da. Und traurig aktuell. Denn 2022 hat mich daran erinnert, dass Kriege immer und überall vom Zaun gebrochen werden.

 

Das Gedicht geht so: Als die Soldaten keine Lust mehr hatten, gingen sie heim und aßen Frittaten. Da zürnte der König, weil die Soldaten kein Schießgewehr hatten und schrie: «Zu den Waffen, ihr kriegsfaulen Affen!» Doch die Soldaten, gestärkt mit Frittaten, traten ohne Waffen hinaus auf die Straßen, wo sie marschierten und demonstrierten: «Schluss mit den Kriegen, der Frieden wird siegen!» Der König am Thron wurde lauter im Ton, was niemanden störte, weil’s ja keiner hörte; da sprang er vom Thron und schrie vom Balkon: «Ich kürz euch den Lohn!» Da sah er die Straßen und drinnen die Massen: Die Großen, die Schlanken, die Gesunden, die Kranken, die Breiten, die Kleinen, die mit weniger Beinen, die Biegsamen, Sturen, die mit prallen Konturen, die voll Farbe, die Bleichen, die Armen, die Reichen, die Kinder ganz vorn. Der König im Zorn wurde rot: «Sapperlot! Ich schieße euch tot.» Doch das Volk war gescheiter. Es holte die Leiter und trug, weiter und weiter, den Topf mit Frittaten, bis hoch zum Balkon. «Jetzt essen Sie schon, lieber König am Thron. Auch Sie werden seh’n, es wird bald vergeh’n, der Zorn und die Wut, und alles ist gut...»

 

Weiter weiß ich nicht mehr. Vermutlich musste ich die Geschichte spätnachts nicht fertigdichten, da an dieser Stelle meine Tochter bereits eingeschlafen war. Mir fällt tatsächlich nicht mehr ein, ob der König nun von dem pazifistischen Frittatenangebot überzeugt war und wundersam sich alles zum Guten wendete, oder ob er wie ein Rumpelstilzchen den Topf umkippte und das ganze Land in eine nie endende Düsternis zurückwarf.

 

Dumme Märchenweltvorstellung! Höre ich meine innere Vernunftstimme ätzen. Welche Frittatensuppe der Welt sollte das denn bitte sein, die dem Morden, der Ausbeutung oder der Machtgier etwas entgegensetzen könnte? Und ja, was hilft’s, wenn der eine Diktator frittatenverfressen endlich einschläft und wundersam zum Schlaraffenlandverfechter mutiert? Der Thron der Intoleranz, Niedertracht und Selbstsucht wird stets neu besetzt. Auch wenn alle Stühle scheinbar demokratisch positioniert sind. Mit dem Kinderreim auf den Lippen blicke ich also auf die Ereignisse des Jahres zurück. Und kämpfe gegen Resignation.

 

Es ist vom Schlimmsten auszugehen. Und ich hasse es, diesen Satz zu schreiben. Aber 2022 hat kaum wie ein Jahr zuvor die Fassaden von den Gebäuden der Verblendung gerissen. Wer profitiert von wem und wodurch? Wer verzichtet auf was, wie sehr und ab welchem Zeitpunkt? Wer stiehlt sich aus der Verantwortung, wie schnell, wie unbemerkt, wie ungeniert? 2022 hat Masken von Machthabenden heruntergeschält und darunter ging das Spiel von Tarnung und Täuschung weiter. 2022 hat mein humorvoll hingesetztes Lächeln (So arg wird’s schon nicht sein…) in ein müdes bis zynisches Achselzucken gewandelt (Was war denn Anderes zu erwarten?). Das Untragbarste dabei ist mein eigener Anspruch an die gesellschaftlichen Verhältnisse. Ich traue den Institutionen, die mein Leben gestalten, in denen ich selbst gestaltend wirken will, viel zu wenig zu. Ich traue uns, und das ist das Schmerzlichste, als Gesellschaft viel zu wenig zu.

 

Dagegen ist anzugehen. In meinem Fall: anzuschreiben. Es braucht bessere Worte für sehr schlechte Zeiten. Es braucht Begriffe, die den Rissen im Weltgefüge nachjagen, sie fassbar machen, damit Übergänge entstehen, Durchlässigkeit statt Verkrustung. Es braucht Sätze, die vom Hunger berichten und Sättigung verlangen. Die aufschreien, wo Wunden klaffen, und hartnäckig stillen. Die Kriegstrommeln unterwandern und Landschaften befrieden. Durch Aufklärung, Vertiefung, Verdichtung, Weckruf, Gegenerzählung. Es bräuchte so viel. Für mich, vor allem, Poesie gegen die Zertrümmerung von Mut und Sehnsucht. Kaum wo ist von Träumen zu lesen. Habe ich aufgehört zu träumen?

 

Heute ist wieder so ein Tag. Fronten sind verhärtet. Hierarchien bestätigt. Gewalttaten in wachsenden Listen abrufbar. Armut weiter vorhanden. Migrationsgründe am Steigen. Und auch die Temperatur des Planeten. Ich war kurz davor dem Kulturredakteur dieser Ausgabe zu schreiben, dass ich zu 2022 beim besten Willen nichts zu sagen habe. Bis mir die Frittaten einfielen. Ja, vielleicht ist es gerade jetzt an der Zeit das Gedicht an alle Kriegstreibenden der Welt zu verschicken, in vielfacher Übersetzung.

 

Das Menü müsste freilich ergänzt werden. Mit süßem Traubenkompott gegen Exekutionen, per Hand oder am Schafott. Mit zartem Kaiserschmarrn samt Rosinen gegen kinderzerfetzende Blindgänger und Minen. Couscous und Erbsenschoten anstatt der grausam verscharrten Toten. Cyber-geschulte Polizei-Vinaigrette, die den Suizid der internetverhetzten Ärztin verhindert hätt. Ein Haufen heißer Maroni, bitterzart verbrannt, für den nächsten hinterfotzigen Chat-Protokollant. Frittierte Ente gegen korrumpierte Parlamente. Reichlich verschwurbelte Eierspeis gegen radikalen Verschwörungsscheiß. Nachhaltig gezüchtete Forelle gegen ausbeuterische Steuerkriminelle. In meinen utopischen Reimen würden die hinterzogenen Millionen vorbildlich korrekt ins Allgemeinsystem eingezahlt, die verurteilten Verbrecher würden zu einem aufrichtigen Loblied auf den Sozialstaat verdonnert, samt kostenloser Essensausgabe an Obdachlose in ihren finanzamtsnahen Konzernen. Ich denke weiters an gartenfrische Karotten und Gurken für die menschenrechtsvergessenen Sportbereicherungsschurken (bei jedem Biss fällt ihnen ein Zahn der Verlogenheit heraus!). An aktivistische Fair-Trade-Melonen zur ehrlichen Unterstützung der Letzten Generationen (Was braucht es, um Gesellschaften wachzurütteln? Warum verengen Staaten die Räume des Widerstreits? Gerne eine Fuhr Kuhmist mehr auf Gemälde hinterm Sicherheitsglas für einen Hitzetod weniger!) Ich denke, nicht zuletzt, an sonnengereifte Oliven gegen die, die zum Hass aufriefen. In meinem Märchen verstummen sie, ihre Gewaltbotschaften hängen jämmerlich in der Luft, kein Resonanzraum, kein Millimeter. Am Ende noch eine Zauberbohnenranke für die Trauer über Verstorbene und einen schönen Abschied für unheilbar Kranke. Sowie unverschmutztes, kostenloses Trinkwasser gegen dreckige Frauenhasser. Soll ihr gekränkter Selbstwert und der systemische Zorn abfallen, soll der nackte Wahn erkannt werden, und eine Gesellschaft, die das Morden so lang schon duldet, endlich die Toleranz vorleben.

 

Jetzt ist es doch noch pathetisch geworden. Keine Ahnung, ob so ein Kinderreim in die Paläste und Regierungsgebäude des Planeten vordringt. Es ist auch egal. Allein die Möglichkeit vom Unmöglichen zu berichten, weitet meinen Handlungsspielraum. Andere werden nun den Kopf schütteln. Lachen. Den Artikel in den Müll katapultieren. Sollen sie. Beim Kopfschütteln werden Denkstrukturen wachgerüttelt. Lachen lässt Gesichter tanzen. Und wer diesen Text verwirft, muss seine Position verändern.


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