Die Gegenwart ist keine Wiederholung der Geschichte. Oder: Der Autor empfiehlt, nicht ohnmächtig zuzusehen.

In: Programmheft "Leben und Sterben in Wien", Theater in der Josefstadt, März 2024


Auszug aus dem Stück, das in Österreich zwischen 1927 und 1934 spielt.
Auszug aus dem Stück, das in Österreich zwischen 1927 und 1934 spielt.

„Was wir da vorgestellt haben, ist nicht zu radikal,

sondern vielleicht für einige Leute nur ein bisschen zu früh.

Eine Remigrationspolitik ist völlig unaufhaltsam.“

(Martin Sellner, 10. Jänner 2024)

Es heißt, Geschichte wiederholt sich. Politik brüllt Parolen, die altbekannt sind. Vergangene Ideologien werden neu aufgegriffen. Ewiggestriges wird brandaktuell.

 

Das Reden von der Geschichtswiederholung zermürbt. Denn es scheint, als führe niemand Regie, als folgte die Gegenwart einer vorgegebenen Bahn. Dass sie das nicht tut, ist bekannt, aber was ist die Reaktion auf wachsende antidemokratische Tendenzen? Ein Lichtermeer? Ja! Ein Aufruf zu Zivilcourage? Unbedingt! Politisch klare Worte? Mehr davon! Doch die politische Arena ist voll Lärm. Couragierte Ansagen dringen kaum durch. Und im entmutigten Achselzucken hinter der Bühne lauert fatalistische Ohnmacht. Als wäre all dies nun an der Zeit, als hätte es so kommen müssen, wie manche erhoffen, dass es kommen wird – jene nämlich, die davon reden, für alle zu sprechen (fürs „Volk!“), durch dieses neu-völkische Gerede uns aber alle zerteilen.

 

Was heißt es angesichts dessen, ein Stück Vergangenheit auf die Bühne zu bringen – die Jahre zwischen 1927 und 1934 in Österreich, in denen die „Zerstörung der Demokratie“ angegangen wurde.

 

1.

Ich erzähle eine Vorgeschichte. Kein Nazi fiel jemals vom Himmel. Kein Faschismus entsprang ansatzlos irgendeinem irren Kopf. Keine Diktatur ohne jene, die sie ersehnten und ersehnen. Kein Genozid ohne dasSchweigen der Mitlaufenden, dem Wegsehen der vermeintlich Unbeteiligten. Mein Stück erzählt von den Nährböden des Totalitären – ideologisch, sozialpolitisch, sprachlich. Und auch von der Dauer. Es dauert, bis Gesellschaften erodieren! Das ist bedrohlich. Doch auch ein Weckruf. Keine Geschichte ist an der Zeit. Sie wird gemacht.

 

2.

Geschichte am Theater ist der Versuch diese historische Gemachtheit zu analysieren. Wer hat wann, wie und warum gesprochen? Wer wird von wem wodurch erniedrigt? Was verleitet zu Missgunst, Gier, Gewalt? Wer wird übersehen, mundtot gemacht, ermordet? Wer ermächtigt sich – und rechtfertigt Brutalität mit Lügen, wie jener widerlegten Mär, 1933 habe sich in Österreich das Parlament „selbst ausgeschaltet“. Nein: Die Regierung griff bewusst zur Diktatur!

 

3.

Ich erzähle ein Stück vom Töten und Morden, und damit von der Untragbarkeit des Geschichtlichen, vom Nicht-Mehr-Hinzunehmenden, das dennoch (von Mehrheiten, auch demokratischen!) mitgetragen wurde. Es geht um die Alltäglichkeit von Gewalt, und deren Eskalation (im Nachhinein wird immer gesagt werden, niemand hätte es kommen gesehen!). Es geht aber auch um die Gefahr, die „Guten“ und die „Bösen“ voreilig zu verherrlichen oder zu verteufeln. Zwischen dem Schwarz und Weiß des blassen Allgemeinwissens (Ständestaat oder Austrofaschismus? Arbeiteraufstand oder Bürgerkrieg?) spielt sich das eigentliche Drama in widersprüchlichen Grautönen ab.

 

4.

Ich erzähle vom Kampf um Emanzipation. Eine Frau bricht mit ihrer Herkunft, ihrer Erziehung, ihrem Glauben und mit den Männern, die auf sie Einfluss hatten. Die patriarchalen Strukturen – verkrustet, gekränkt und im Machterhalt geübt – holen sie wieder ein, im Privaten, im Politischen. Diktaturen sind immer dann zur Stelle, wenn die Hegemonie des Männlichen sich bedroht fühlt. 

 

5.

Kein Theater ohne Gegenwart. Ich erzähle von der Kollision der Vergangenheit mit dem Hier und Jetzt. Es hilft nichts, Altes gleich einer Aufzeichnung des Originals nachzuspielen. Denn Gegenwart ist nie die bloße Wiederholung dessen, was war. Das würde die Geschichte verharmlosen. Aber auch die Gefährlichkeit des neu Aufgeflammten verkennen, wie etwa die strategische Wiedergänger-Politik der „Neuen Rechten“, die über Jahre hinweg bagatellisiert wurde, unter dem Motto „ein Holocaust wird draus schon nicht werden…“ Aber Achtung! Was auch immer daraus entsteht, wenn jemand euphemistisch von „Remigration“ spricht und Deportation meint* – es beginnt in jedem Fall ein brachial neues Kapitel unserer Gegenwart.

 

Anders gesagt: Der heutige „Rechtsruck“ ist keine Kopie – er ist ein Remake! Über Jahrzehnte geprobt, präzisiert und professionalisiert. So eine Neufassung findet nicht nur zeitgemäße Bilder, sie prägt das Gegenwartsbild maßgeblich mit und normiert es (aus Radikalem wird Normalität). Sie ist kein verstaubter Klassiker, Sonntagnachmittags unaufgeregt konsumiert, sondern regt auf, hetzt, extrem, total.

 

Was Theater tun kann, ist diesen Prozess sichtbar zu machen, und damit handhabbar, begreifbar. Etwa durch den Abgleich des Alten mit dem Neuen. Keine passive Gleichsetzung, sondern eine aktive Methode, die je eigene Wahrnehmung scharfzustellen, dem vagen Bild („Die Welt steht am Abgrund…“), klare Kontur und Differenz zu geben! Wer nimmt in der aktuellen Neufassung die alten Rollen ein? Welche Sprachmuster werden umgedeutet (neu geframt)? Wer spricht wem hinterher, wer hetzt voraus? Wer stützt (politisch) die Fahnen, die sich in den neuen Machtwind drehen? Wer hält (medial) die nötigen Podien der Menschenverachtung bereit? Wer investiert (aus Gier? Kalkül? Wahnsinn?) in die Zerstörung demokratischer Systeme? Und wer steht im Hintergrund neu bereit, wenn eine „Volkskanzlerdespotie“ nach Steigbügeln Ausschau hält?

 

Worum es mir also geht, ist eine Poesie des Widerstands für die nötige Wachheit. Eine Sprachverdichtung, die mich aus meiner politischen Ohnmacht katapultiert. Theater als Werkzeug für die Gegenwartsarbeit.

 

Kein Kunstraum ist unpolitisch.

 

 

* Der österreichische Rechtsextreme Martin Sellner schreibt hierzu unverhohlen: „Die Remigration von illegal eingewanderten, von nicht integrierbaren und von unerwünschten Ausländern ist juristisch möglich, politisch gerechtfertigt, moralisch vertretbar und praktisch umsetzbar. Sie wäre ein Prozess zum Wohle aller.“ (Vgl. „Remigration. Ein Vorschlag.“ Schnellroda: Antaios 2024.) Der Antaios-Verlag des rechtsextremen Publizisten Götz Kubitschek vertreibt seit 2000 dezidiert neonazistische Programmatik. Was das „Unerwünschte“ in Sellners Argument ist, welche Moral hier „vertretbar“ gemacht und welches „Wohl aller“ adressiert wird, bleibt ungesagt – umso „sagbarer“ wird der Begriff der „Remigration“, ein Fachterminus aus der Migrationsforschung der nun, völkisch-rassistische Codes verharmlosend, in die Wahlkampfsprache extremistischer Parteien übergeht, wie jener der AfD und FPÖ. 

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Der Text entstand anlässlich der Uraufführung von LEBEN UND STERBEN IN WIEN am Theater in der Josefstadt. Premiere: 7. März 2024.


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