Meine österreichische Landschaft

Abgedruckt in: 99, Edition Neues Forum Literatur 101/2014


Kopie aus dem Polizeiakt «Alois Samer», erschossen im November 1953 im Bezirk Deutschlandsberg, historisch kontextualisiert und aufgearbeitet in: Edith Blaschitz, Der «Kampf gegen Schmutz und Schund», LIT 2014.
Kopie aus dem Polizeiakt «Alois Samer», erschossen im November 1953 im Bezirk Deutschlandsberg, historisch kontextualisiert und aufgearbeitet in: Edith Blaschitz, Der «Kampf gegen Schmutz und Schund», LIT 2014.

Ich erinnere mich an das Bild des niedergeschossenen Alois Samer. Ich habe das Bild – ein Foto aus einem Polizeiakt, der mir in schwarzweißer Kopie übermittelt wurde – vor genau zwei Jahren das erste Mal gesehen. Ich saß lange und still über dem Bild der Leiche und konnte trotz der grausamen Tat, die an dem niedergeschossene Alois Samer verübt worden war, eine erschreckende Schönheit entdecken. Da lag ein Junge, keine Zwanzig, rücklings im Wald, die Arme beiderseits wie Flügel von sich gestreckt und die Beine seltsam angewinkelt, als würde er im Tod noch in dem Sattel sitzen, aus dem er davor gefallen war. Er trug einen Gürtel mit Patronenhülsen und eine Pistole lag neben ihm, zwischen dem Geäst und den Holzrinden. Sein Gesicht war noch das eines Kindes, sein Mund war geschlossen und sein rechtes Auges fehlte ihm. Das Loch eines heftigen Einschusses war an dessen Stelle getreten und dunkel geronnenes Blut legte sich vom Nasenbein bis zum Wangenknochen über die kindliche Haut – fast als wäre es dem niedergeschossenen Alois Samer nun zur Maske eines dummen Cowboyspiels geworden. Auf den fünf weiteren Fotos aus dem Polizeiakt konnte ich das Umfeld der Tat erkennen – den Wald, in dem geisterhafte Polizisten im Nebel den Tatort dokumentierten.

 

Im Allgemeinen erzählte mir die Abfolge der Tatortfotos die Geschichte eines tragischen Unfalls in der österreichischen Provinz, wie sie an vielen Orten der österreichischen Provinz passieren hätte können und dieses Mal, im Fall des niedergeschossenen Alois Samer, zeigte sich die allgemeine Tragik des Provinziellen in einem Nirgendwo in der südwestlichen Steiermark. Was jedoch abseits des allgemein Tragischen im Genauen dazu geführt hatte, dass der niedergeschossene Alois Samer sein österreichisches Ende im Nirgendwo eines steiermärkischen Waldes finden musste, das zeigten mir die Fotos nicht. Denn die Landschaft hatte sich aus den mir vorliegenden Bildern zurückgezogen. Ein gespenstisches Abbild blieb zurück – ein Märchen aus alten Tagen. Man würde es sich folgendermaßen erzählen: Es war einmal ein Junge vom Land, der in die weite Welt hinausreiten wollte. Er kleidete sich in ein altes Soldatengewand, setzte einen schwarzen Steirerhut auf, nahm die alte Wehrmachtspistole seines im Krieg gefallenen Vaters, band sich einen Patronengürtel um die Brust, raubte vom Bauern im Nachbardorf eine Haflingerstute und vom Bäcker ein Stück Brot und ritt los in den Westen. Sechs Tage später war er tot. Mit diesem Märchen im Ohr saß ich einige Zeit über dem Polizeiakt und begriff allmählich die Bösartigkeit und Grausamkeit der Geschichte, die rein gar nichts mit einem Märchen zu tun hatte.

 

Es war schließlich im Juni dieses Jahres, als ich mich entschloss, jene Stelle aufzusuchen, an der 1953 eine österreichische Gendarmerie-Patrouille den jungen Landarbeiter Alois Samer ermordet hatte. Ich fuhr mit einem Mietauto von Wien aus über die Südautobahn in die Steiermark und während der Juni draußen die Luft in einen flirrenden Zustand versetzte, der mir von den Aufnahmen trostloser Steppen in den Wildwestfilmen meiner Kindheit bekannt war, erstarrte herinnen im Auto die kühle Luft der Klimaanlage in der Musik von Franz Schuberts Winterreise. Franz Schuberts Winterreise, die ich auf CD gekauft hatte, um während meiner Autofahrten immer das Gefühl zu haben, dass Reisen stets aus Verzweiflung passiert und Ankommen schlicht unmöglich ist, machte die Junilandschaft der Steiermark zu einer grotesken Erscheinung. Denn die steiermärkischen Wiesen und auch die steiermärkischen Wälder lachten in steiermärkischer Schönheit in mein klimatisiertes Mietauto herein, und dazu gesellten sich Schilder am Straßenrand, die eben diese steiermärkische Schönheit bewarben und sie luden ein, sich jetzt recht schön daheim zu fühlen, derweil meine Stereoanlage im Mietauto etwas verstört rauschte und eine Frauenstimme sang: Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.

 

Drei Stunden später erreichte ich im südwestlichen Teil der Steiermark den strategischen Ausgangspunkt meiner Reise: die Zehntausendseelengemeinde Deutschlandsberg. Die Zehntausendseelengemeinde Deutschlandsberg erinnerte mich mit ihrer neu gepflasterten und menschenleeren Marktstraße und mit den Überresten kleinbürgerlicher Nahversorgung sogleich an die Zehntausendseelengemeinde Kirchdorf, in deren unmittelbarer Nähe ich aufgewachsen bin. Ich parkte das Auto, um mir die Beine zu vertreten und eine Jause für die bevorstehende Wanderung zu besorgen. Ich ging also zum lokalen Fleischer und zum lokalen Bäcker und kaufte mir eine hausgemachte Landjäger und ein hausgemachtes Schwarzbrot, sowie einen Block Käse und auch eine Wanderkarte, die ich im örtlichen Tourismusbüro erhielt, sowie eine Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung von der örtlichen Trafik. Ich setzte mich zurück ins Auto, biss in meine Landjäger und las in der Neuen Zürcher Zeitung vom neuen Papst in Rom, der den ertrunkenen Flüchtlingen aus Afrika gedenken wollte, weswegen der Papst in Rom auf die Insel Lampedusa reiste, wo die ertrunkenen Flüchtlinge niemals angekommen waren, da sie ja ertrunken waren. Dann las ich von gewalttätigen Massenkundgebungen in Kairo und von gewalttätigen Massenkundgebungen in Istanbul und ich biss dabei in ein Stück Schwarzbrot und schnitt mir mit meinem Taschenmesser, das ich vorsorglich eingesteckt hatte, auch ein Stück Käse vom Käseblock. Danach las ich von einem jordanischen Hassprediger in London, der aus London nach Jordanien abgeschoben wurde, während sich die EU und die USA annähern wollten, was man zum einen Asylverfahren und zum anderen Freihandelsgespräche nannte. In einer Randnotiz las ich danach von Polen, dessen Beitritt zur EU in weite Ferne zu rücken schien. Und zuletzt las ich von einem Gebiet im Osten von Deutschland, aus dem man in den letzten Jahren immer nur weggezogen war und in das man nun begann, wieder zurückzuziehen, was man zum einen Strukturschwäche und zum anderen Hoffnungsschimmer nannte. Ich gab den Rest meiner Jause auf den Beifahrersitz, legte die Neue Zürcher Zeitung eingerollt zwischen Käse und Wurst, schlug die Wanderkarte auf und so verließ ich die Zehntausendseelengemeinde Deutschlandsberg.

 

Ich hatte bereits vor meiner Abreise von Wien aus versucht, eine möglichst genaue Verzeichnung der hiesigen Wanderrouten zu bekommen und zusammen mit der Wanderkarte aus dem Tourismusbüro war ich mir sicher, den Todesort des Alois Samer in der Nähe des Bergdorfes Glashütten ausmachen zu können. Eine Passstraße, die von Deutschlandsberg über die Koralpe ins westlich gelegene Bundesland Kärnten führte, sollte mich zu dem Bergdorf bringen, das in allen Aussagen des Polizeiaktes, in dem damals vom tragischen Unfall die Rede gewesen war, welcher aber aus heutiger Sicht ein brutaler Mord gewesen sein musste, als nächstgelegener Ort des Verbrechens genannt wurde. Nach einer weiteren halben Stunde, in der die letzten Häuser Deutschlandsbergs im Rückspiegel verschwanden und ein endlos scheinender Wald die ansteigende Bergstraße zu verschlucken drohte, sah ich endlich die Abzweigung nach Glashütten. Ich rollte nun, ohne es gewollt zu haben, fast andächtig mit dem Auto die letzten Meter in das etwas abschüssig liegende Berdorf hinab und ich parkte am einzigen Parkplatz des Dorfes, das sich im Genauen aus sieben mir ersichtlichen Bauernhöfen, einer Kirche und einem Friedhof zusammensetzte. Es ereilte mich das ungute Gefühl, dass in dieser überschaubaren Ländlichkeit ein Mietauto mit Wiener Kennzeichen wohl nicht unerkannt hingenommen werden würde und ich fühlte mich mit einem Mal von den Augen der in den sieben mir ersichtlichen Gebäuden lebenden Glashüttner Bergbäuerinnen und Bergbauern und deren Bergbauerntöchtern und auch deren Söhnen wie ein Fremder beobachtet. Sie alle mussten nun, so kam es mir vor, in ihren Bergbauernhofstuben sitzen, hinter den Vorhängen, und sie erkannten mich als einen Eindringling, der gekommen war, um in einer alten Geschichte zu graben. Ich wartete einige Sekunden, stellte dann den Motor ab und stieg aus.

 

Die Luft war anders. Auf etwa tausendfünfhundert Meter Seehöhe hatte man in Glashütten bereits das Gefühl, das sogenannte Tal hinter sich gelassen zu haben und jene Luft zu riechen, die gerne als die Almluft bezeichnet wird. Die Almluft, in der weithin bekannt die Unschuld zu Hause ist, erinnerte mich sogleich an meine Kindheit, in der ich mit meiner Familie des Öfteren in einem ähnlichen Bergdorf Ferien gemacht hatte und, als ob das Dorf mir seine Unschuld einzuhämmern gedachte, schlug die Kirchturmglocke, als ich eben auf den Parkplatz trat, zur dritten Stunde, die schon rein biblisch die Schuld von den Menschen nahm. Das Biblische und das Ländliche gemahnten mich zur Demut, das Geschichtliche ruhen zu lassen, so kam es mir vor, und ich setzte mich zuerst kurz vor die Kirche des Bergdorfes, was wohl meiner ebenfalls ländlichen Kindheit geschuldet sein musste. Unterhalb der Kirche befand sich ein Friedhof. Aus den Polizeiakten war mir bekannt, dass der niedergeschossene Alois Samer, nachdem er von der Gendarmerie-Patrouille in dem Wald bei Glashütten mit zwei Schüssen vom Pferd geknallt und dann am Boden liegend mit drei weiteren Schüssen hingerichtet worden war, als ein fünffach durchschossener Leichnam in den hiesigen Friedhof gebracht werden sollte. Der hiesige Friedhof, der nun keine hundert Meter unter mir lag, war mit seinen wiesenumwachsenen Gräbern und seinem gartenähnlichen Holzzaun von allen sieben Bauernhäusern gut einsehbar. Die Bauernhäuser bildeten einen Halbkreis um den Friedhof, so als wäre die Ruhestätte eine heilige Bühne. Um nun also auf dem Friedhof nach dem Grab des Alois Samer zu suchen, musste ich die Heiligkeit der Bühne stören. Gerade eben mähte noch ein hiesiger Bauernsohn auf seinem Traktor das Feld ringsum des Friedhofes. Ich wartete vor der Kirche, bis die Mäharbeiten verrichtet waren und ging hernach, erkennbar als ein Fremder, die Wiese von der Kirche zum Friedhof hinab. Der Holzzaun hatte ein Holzgatter, das sich leicht öffnen ließ. Ich trat auf die Friedhofswiese und fühlte mich wie ein Einbrecher, dazu faltete ich die Hände unwillkürlich an meinem Schoß, wie ich es früher beim Beten in der Kirche neben der Großmutter und dem Großvater gelernt hatte, und versuchte wohl in dieser Handstellung den Einbruch mit Andacht zu verleugnen. Diebisch jedoch schritt ich weiter und griff zu meiner kleinen Fotokamera, die ich vorsorglich eingesteckt hatte, und so begann ich Grab für Grab zu dokumentieren. Es standen all die Namen der Familien von den sieben mir ersichtlichen Bauernhöfen darauf, ihre Vorfahren und auch deren Vorfahren. Namen von Toten, die oft seit dem Neunzehnten, auch dem Achtzehnten und auch seit dem Siebzehnten Jahrhundert von der lieben Dorfgemeinschaft hier in heiliger Andacht verscharrt und betrauert wurden. Auch die Namen der Toten aus den Kriegen waren versammelt, die Toten des Ersten und auch die Toten des Zweiten Weltkriegs – Denkmäler der Vaterlandspflicht, Zeugnisse der Heimatliebe. Dann lagen auch die Toten der Gegenwart hier: die eben verstorbenen Alten und die eben verstorbenen Jungen und auch ein Kind. Kein Jahr wurde es alt, das Kind von Glashütten, das nun von einer grünen Juniwiese überwachsen wurde. Ich ging die Reihen ab und las alle Namen. Der Name des niedergeschossenen Alois Samer fehlte jedoch. So beschlich mich der Verdacht, dass der junge Landarbeiter, dessen Ermordung damals als eine notwendige Tat, ja, als Notwehr bezeichnet worden war, gar nicht begraben wurde. Es fehlte dem Leichnam wohl die Heiligkeit für ein Begräbnis, denn hatte der Landarbeiter doch ein Pferd gestohlen und war er doch, als ein Cowboy, bewaffnet durch die Provinz geritten, und hatte er doch, als ein Amokläufer, jene unschuldige Provinz in Angst und Schrecken versetzen wollen. Was auch immer der Leiche widerfahren war – eine Andacht war es wohl nicht.

 

Mit den Gedanken an das Schlimmste also ließ ich den Friedhof von Glashütten hinter mir und ging in den Wald. Ich kam zu einer Kreuzung mit gelben Wegweisern. Die hiesigen Wanderwege trugen Namen, die ich teils aus dem Polizeiakt von 1953 kannte, aber teils auch nicht. Manche der Wanderwege mussten mittlerweile umbenannt worden sein oder, so vermutete ich, die Bezeichnungen aus dem Polizeiakt entsprachen der Benennung aus dem sogenannten Volksmund. Da mir der Volksmund aber unbekannt war und mir die tatsächliche Kartografie der Landschaft nur ungenaue Auskunft gab, orientierte ich mich an einer Zeugenaussage, derer zufolge ein amoklaufender Cowboy damals in Richtung der sogenannten Schwarzen Sulm flussaufwärts geritten wäre, wobei der Cowboy in höhnischem Lachen die Schwarze Sulm erst ostwärts und schließlich westwärts überquert hätte, um später über eine Passstraße auf die sogenannte Weinebene zu flüchten, derweil die Gendarmerie-Patrouillen aus den in Angst und Schrecken versetzten Provinznestern ihm beritten und bewaffnet hinterherjagten. Ich ging also, mit dem Bild einer wilden Treibjagd im Kopf, den sogenannten Gressenbergweg, der mich über eine Schotterstraße zur Schwarzen Sulm brachte. Auf diesem Weg begegneten mir Bäume, die von rotem Harz überzogen waren, und Bäume, die in Rot und in Weiß die Farben der Heimat an ihrer Rinde trugen, und auch Bäume, deren rotes Harz die Farben der Heimat überzog. Dann begegneten mir ein blutender Christus am Wegrand, das Bild einer Madonna samt Jesukinderl in der Wiese und auch ein Warnhinweis der hiesigen Jägerschaft, dass scharfe Hunde abseits der markierten Wege lauern würden. Ich ging weiter und hörte nun endlich das Rauschen eines Flusses, der aus den engen Gebirgsschluchten der hier ansteigenden Alpenkette noch reichlich an Wildheit und Kälte besaß und im Schatten der Bäume tatsächlich eine großartige Schwärze in sich trug. Ich ging hinab, ans Flussbett, wo eine Brücke über das Wasser führte. Ich hielt inne und sah, wie die Sonne im Westen zwischen den Bäumen sichtbar wurde. Eine heilige Ruhe kehrte ein, so kam es mir vor. Ich dachte an den Geisteszustand des gejagten Alois Samer, der an dieser Stelle sechs Tage unterwegs gewesen war, und der, nachdem er mehrmals seine Route scheinbar wahllos geändert hatte, nun dem Westen entgegen ritt. Ein rastloser Reiter, so stellte ich ihn mir an dieser Stelle meiner Reise vor, mit wahnhaftem Antrieb. Weswegen seine Reise begonnen hatte und wo sie denn enden sollte, wurde nie bekannt. Ich nahm die Fotokamera und hielt sie der Abendsonne entgegen. Aus einer unwillkürlichen Erinnerung heraus begann ich dazu eine Melodie zu summen. Es war die Melodie eines Kindes, das eben dabei war, seinen ersten Wildwestfilm im Fernsehen zu sehen und mit dem Apachen-Häuptling, dem es sich nahe fühlte, über die Prärie zu reiten. Die Melodie dieser Erinnerung legte sich über das Rauschen der Schwarzen Sulm und ich stand bald in einem großartigen Orchester wild reitendender Pferde.

 

Ich ging weiter, über die Brücke, und dahinter einen steilen Schotterweg hoch. Ich zweifelte an dieser Stelle meiner Reise, ob der niedergeschossene Alois Samer denn tatsächlich ein Ziel gehabt hatte, denn wohin sollte er schon gelangen, als immer nur von dem einen Ort, den man Heimat nannte, in den nächsten, den man Heimat nannte, doch war weder die eine und noch die andere Heimat ein schönes Zuhause. Die österreichische Provinz ist kein Ort für einen großen Aufbruch. Hinter dem einen Berg wartet der nächste. Die Prärie ist woanders, als in den österreichischen Alpen. In den österreichischen Alpen wartet nur die Verzweiflung, und auch die Erschöpfung, und vielleicht auch der Wahnsinn. Auf halbem Weg also, zwischen Verzweiflung, Erschöpfung und Wahnsinn, machte der Schotterweg eine scharfe Biegung und wurde zu einem Forstweg. Ich stand nun umzingelt von Bäumen auf fester, trockener Erde und Gras wuchs über den Weg, der scheinbar nicht mehr benutzt wurde. Anderswo waren die Forstwege von tiefen Furchen durchzogen und von den Rädern der Traktoren aufgerissen. Dieser Weg jedoch lag in überraschender Friedlichkeit zwischen dichten Nadelbäumen. Die markante Biegung, vom Schotterweg der Schwarzen Sulm herauf zu diesem Forstweg, der den Förstern gedient haben musste, um die geschlagenen Bäume fortzuschaffen, diese Einbuchtung war mir bekannt von einer Tatortskizze aus dem Polizeiakt. Der Volksmund nannte diesen Weg zum Abtransport der geschlagenen Bäume den Poberschlag. Zweifellos war es der Weg, auf dem ich stand. Ich ging einige Meter hinein, in den Poberschlag. Ich versuchte bis ans Ende des Weges zu schauen, der geradlinig in den Westen zeigte, doch war er mittlerweile verwachsen. Die dichten Nadelbäume dämpften die Geräusche. Der einbrechende Juniabend war warm, aber an dieser Stelle des Waldes bereits dämmrig. Es war nun der Moment meiner Reise, da mir bewusst wurde, dass ich ein paranoider Mensch war. Und da das Paranoide an mir jede Vorstellung, die sich in meinem Kopf abzuspielen begann, sogleich als eine Tatsächlichkeit erscheinen ließ, fühlte ich mich nun, an diesem friedvollen Waldweg, schlagartig unwohl. Es war mir, als sähe ich den niedergeschossenen Alois Samer reiten. Links und rechts des Wegrandes, an dem Zweige als Versteck dienten, lagen nun seine Verfolger: Vier Gendarmen aus einer in Angst und Schrecken versetzten Provinz und mit dem Auftrag einen jugendlichen Amokläufer aufzuhalten. Sie wussten nichts von Verzweiflung. Und sie wussten nichts von Erschöpfung. Und auch vom Wahnsinn wussten sie nichts. Sie waren hier, um ihre Pflicht zu tun, die immer auch eine Heimatpflicht war. So ritt der niedergeschossene Alois Samer heran und in meinem Kopf hörte ich die Schüsse von damals. Der erste traf ihn an der linken Schulter. Der zweite am rechten Knie. So fiel er seitwärts herunter vom Pferd. Am Boden liegend röchelte er. In den Aussagen der beteiligten Polizisten aber würde sein letztes Röcheln zu einem höhnischen Lachen werden. Der Griff nach hinten, um sich vom Boden aufzurichten, wird als Akt des Widerstandes beschrieben werden. Und der Versuch, den Schmerz im Magen einzudämmen, als Griff zur Waffe. Da exekutierte man ihn mit weiteren Schüssen in die Brust, in das Kinn und in sein rechtes Auge. Sein Jochbein wurde zertrümmert, der Lungenflügel zerfetzt und die Halsschlagader zerrissen. Im Aktenvermerk der Polizeibehörde wird es dazu heißen, man handelte aus Notwehr. Das alles spielte sich nun vor mir ab und in meiner paranoiden Vorstellung wurde mir die Gewalt von damals zu einer tatsächlich anwesenden. Ich fühlte mich mit einem Mal selbst verfolgt. Ich begriff, dass ich laufen musste. Ich glaubte, die Bäume höhnisch lachen zu hören. Auch glaubte ich, aus den harzenden Rinden das Blut tropfen zu sehen. Ich glaubte zu sehen, wie die rote und weiße Farbe meiner Heimat auf den Rinden der Bäume grässlich verkohlte und tiefe, schwarze Wunden zurückblieben. An den Ästen baumelten plötzlich die Leichen der Gegenwart, die ertrunkenen Flüchtlinge aus Afrika und aus dem Nahen Osten und aus den Randgebieten meines Kontinents und in ihre zu Tode geflüchteten Körper waren die Worte Strukturschwäche und Hoffnungsschimmer eingebrannt. Und zwischen den Bäumen wandelte die Mutter Gottes samt dem Jesukinderl und weinte. Und ebenfalls zwischen den Bäumen hing auch der blutende Christus am Kruzifix, derweil dazu eine Frauenstimme sang: Fremd bist du eingezogen, fremd ziehst du wieder aus.

 

Ich verließ den Poberschlag fluchtartig. Ich weiß nicht mehr genau, woher ich kam, und ich weiß nicht mehr genau, wohin ich lief. Die Erinnerung wird mir nun brüchig, derweil ich erzähle, und ich sehe in diesem Erzählen und in diesem Erinnern nur mehr das Totenbild des niedergeschossenen Alois Samer. Es erschreckt mich bis heute, aus einer tiefen Schönheit heraus. Es mag die Landschaft sein, die ich zu begreifen versuchte, deretwegen ich auch aufgebrochen war – doch war die Landschaft keine andere als jene, die ich immer schon gekannt hatte. Es war dieses Österreich, das ich Heimat nenne, und vor dem mir dabei immer wieder graust. Es war die Landschaft, die ich als Kind erkennen lernte und die mir seit damals im Nacken sitzt. So versuchte ich ihr auch diesmal zu entkommen, im Juni, am Poberschlag. Und ich weiß noch, es waren erst die Schritte belangloser Wanderer, die sich mit Walkingstecken an den Wanderwegen von Glashütten erfreuten und die mich endlich versöhnlich zur Ruhe kommen ließen. Ich ging zurück zum Parkplatz vor der Kirche, stieg ins Auto und ich fuhr hoch: zur Weinebene. Dort biss ich nochmals in meine Landjäger und blickte hinaus, über die Alpen, in den Westen.

Fotos zur Recherche, Juli 2013:


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