Was ein Planet ist.

POST VOM ARZT N°1/2024


Und wir sausen weiter, ich hoffe auf Schönheit des Planeten, Berge voll Schnee wechseln sich ab mit dem Türkis und Grün und Braun der Seen, irgendwo viel Feld, irgendwo viel Nichts, irgendwo wieder eine Stadt, ich verliere die Orientierung...
Und wir sausen weiter, ich hoffe auf Schönheit des Planeten, Berge voll Schnee wechseln sich ab mit dem Türkis und Grün und Braun der Seen, irgendwo viel Feld, irgendwo viel Nichts, irgendwo wieder eine Stadt, ich verliere die Orientierung...

Dezember 2023: Ich seufze. „Was ist?“, fragt meine ältere Tochter. Ich will ihr den Grund meines Seufzens zuerst verschweigen. „Was, Papa?“ Im Radio laufen die Nachrichten. Aus meinem Seufzen wird ein Kopfschütteln. Meine Tochter sieht mich fragend an. Ich sage: „Manchmal passieren schlimme Dinge. In den Nachrichten wird dann darüber berichtet. Dass was passiert ist.“ Sie: „Was ist denn passiert?“ Ich schweige. Im Radio ist von Toten in Israel und im Gazastreifen die Rede. Ich sage: „Es schießen Menschen mit Gewehren aufeinander und sie töten sich.“ Sie: „Noch immer?“ Ich schlucke. Ich weiß sofort, was sie meint. Sie denkt an Katja. Das Mädchen aus der Ostukraine, das vorübergehend bei Oma gewohnt hat. Damals, vor fast schon zwei Jahren, hatte ich meinen Töchtern das erste Mal von Krieg erzählt. Von Menschen, die Häuser kaputt machen, anderen Menschen wehtun, und sie töten. An diese Gespräche musste meine ältere Tochter durch mein Seufzen über Gaza unwillkürlich denken. In ihrem Kopf ist der eine Krieg auch der andere. Sie hat wohl recht. „Ja“, stottere ich, „noch immer.“

 

Es schmerzt angesichts des Weltgeschehens in die Augen meiner Kinder zu blicken. Ich habe mir ein vorauseilendes Aber-nicht-bei-uns-in-Österreich angewöhnt: „Die Erde hat gebebt. Es sind ganze Städte kaputt. Aber keine Sorge. Nicht bei uns in Österreich.“ „Dort ist es sehr heiß. Die Erde ist zu trocken für die Bäuerinnen und Bauern. Daher gibt es noch weniger zu essen. Aber keine Sorge. Nicht bei uns in Österreich.“ „Dort brennt der Wald. Die Menschen mussten in der Nacht aus den Hotels flüchten. Aber das ist nicht bei uns in Österreich.“ „Die Menschen verlassen das Land. Weil sie dort nicht mehr so leben dürfen, wie sie wollen. Die anderen Menschen, die jetzt das Sagen haben, waren stärker. Aber das ist weit weg. Nicht bei uns in Österreich.“ „Da ist ein Krieg. Aber keine Sorge…“ Wie lange stimmt dieser Satz noch? „Nicht bei uns in Österreich.“ Stimmt er überhaupt? Und wie weit weg ist weit weg?

 

Jänner 2024: Ich versuche meinen Kindern davon zu erzählen, was ein Planet ist. Wie der unsere aussieht. Wie unterschiedlich Erdteile sind. Was Menschen eint. Was sie trennt. Wir bewegen mit dem Finger am Computer-Bildschirm die Erdkugel im Satellitenbild in alle Richtungen, suchen die Nachthälfte, die Taghälfte, zoomen weit weit weg, sodass eine Ahnung vom Universum (vielleicht) entsteht, von den Himmelskörpern rundum. Von Umlaufbahnen und Drehungen. „Da, seht ihr den Mond? Und so dreht er sich um uns. Und so drehen wir uns um die Sonne. Und wenn wir hier schlafen, dann machen die Kängurus dort Kinderparty.“ „Und da?“ „Da sind wir daheim.“ Wir zoomen wild hinein, in das Bild. Wir sausen auf Wien zu. Suchen unser Wohnhaus. Folgen der Bahntrasse vom Hauptbahnhof. „Hier können wir einsteigen und losfahren. Wo fahren wir hin?“ Es fallen den Kindern unsere Urlaubsorte ein. Mit dem Nachtzug in ein Sommerglück. Und wir sausen weiter, ich hoffe auf Schönheit des Planeten, Berge voll Schnee wechseln sich ab mit dem Türkis und Grün und Braun der Seen, irgendwo viel Feld, irgendwo viel Nichts, irgendwo wieder eine Stadt, ich verliere die Orientierung, bis wir das Mittelmeer erreichen, und in dem tiefen Blau uns ausdenken, wer hier aller sein Zuhause haben könnte. Ich hoffe, die Wahrheit des Sterbens auf Fluchtrouten in meiner hochaufgelösten Weltansicht mit den Kindern im Bett kuschelnd nun nicht abgebildet zu bekommen. „Was ist das, Papa?“ „Was?“, frage ich zögerlich. „Dieser Fleck?“ „Ich weiß es nicht. Wirklich. Ich weiß es nicht.“

 

Aus Neugierde, aus schlechtem Gewissen, aus Verpflichtung (ich weiß es nicht), suche ich an diesem Jännerabend im Zoom den Gazastreifen. Was zeigt das Satellitenbild? Erschließt sich Gewalt aus der Distanz? Ich seufze, zwischen Wut und Trauer. Alles ungreifbar. In meinem Browser nur Aufnahmen von einem Davor (kein aktueller Stand der Dinge). Illusionen wiegen uns in den Schlaf.

 

Am nächsten Morgen in unserer Routine beim Einsteigen in unser Lastenrad, am Weg zum Kindergarten, wieder mein Seufzen. Vor meinen Füßen ein Haufen Plastikverpackung (anstatt in unserem Müllraum entsorgt achtlos vorm Eingang im Dreck der Straße liegen gelassen). „Was ist?“, fragt nun die jüngere Tochter. Ich schaue nur nach unten, auf die vermüllte Zone vor der Tür zum Fahrrad-Raum und im Dilemma zwischen LASST DAS LIEGEN, DAS IST SCHMUTZIG und HEBEN WIR ES AUF UND RECYCELN WIR DAS PLASTIK erkennt meine Jüngere die Situation: „Nicht verschwenden, wieder verwenden.“ Ich lache. „Ja. Vollkommen richtig.“ Sie lacht zurück, den Spruch ihres Lieblingshundes aus ihrem Lieblingscartoon auf den Lippen. „Müll gehört nicht auf die Straße. Das ist blöd!“, setzt die Ältere nach. Sie freut sich über ihren entschiedenen Einspruch. „Weil sie sonst bricht.“ „Wer?“, frage ich verwirrt, den Müll mit einem großen Schritt samt Kindern im Schlepptau umschiffend, mir so den Weg zum Rad bahnend, „die Straße?“ „Nein, Papa“, kommt es prompt retour. „Die Erde. Die bricht. Wenn wir nicht aufpassen.“

 

Ich würde gerne weinen wollen, schlucke stattdessen und stottere pädagogisch wertvolle Worte aus meinem morgenumnebelten Vatermund, bis wir routiniert in den Tag radeln, das Brechen der Welt im Nacken.

 

(Wien, 9. Jänner 2024) 


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