Der Smalltalk wirkt bedachter

POST VOM ARZT, N° 2/2020


Buch im Lockdown, Nationalbibliothek, Wien.
Buch im Lockdown, Nationalbibliothek, Wien.

Meine Tochter kennt nun das Wort Mund-Nasen-Schutz. Sie hat gelernt, vor Eintritt in den Kindergarten die Hände zu desinfizieren. Sie sagt Seife dazu. Sie hat vor geschlossenen Spielplätzen rebelliert und den Appell Nicht-Berühren meist befolgt. Die befürchtete Phobie vor Allem und Jedem ist ausgeblieben. Die Parks sind wieder offen. Die Kinder spielen gemeinsam. Auch viele Eltern haben schnell vergessen, was Abstand bedeutet. // Mein Leben wirkt befremdlich unverändert. Die Kaffeehäuser, in die ich gerne gehe, sind gut besetzt. Alles erwacht aus dem Schlaf. Anderswo aber ist alles anders. Tische bleiben leer. Rollläden geschlossen. Arbeit ist verloren. Neue Schneisen ziehen sich durchs Land (und alte Risse verschärft durchs System). // Hilferufe kamen und kommen aus allen Ecken. Wer nicht im Eck steht und die bessere Lobby hat, bekommt am meisten. Systemrelevanz ist hart umkämpft. Manche schwadronieren vom radikalen Neustart, freuen sich zugleich aber über altbewährte Förderungen. Auch die Kunst will, so höre ich, wieder Kunst machen, wie sie war. // Ich blättere zurück. Was wollte ich Anfang 2020? Ich habe Manches verworfen. Einiges verschoben. Vieles ist abgesagt. Anderes habe ich selbst für irrelevant erklärt. Mein System ist glücklicherweise stabil. Aber ich fürchte verstärkt um jene, die systematisch übersehen werden, schon lange vor diesen Tagen. // Und wie hast du diese Zeit durchlebt? Das fragt eine Frau einen Mann im Gasthaus. Der Smalltalk wirkt fürsorglicher, weil bedachter. Sie nicken sich zu. Sie sind im Unausgesprochenen sonderbar Verschworene. Dann verabschieden sie sich, ihr Lächeln soll sagen: ja eh, die Lage ist scheiße! Das Wort jobless fiel nur schnell im Nebenbei. // Der Arbeitgeber eines Freundes hört plötzlich auf die Bedürfnisse der Belegschaft. Nun darf von Zuhause aus gearbeitet werden. Es habe sich gezeigt, dass die Produktivität sogar steige. Das war ein gutes Argument. Seelisches Wohlbefinden und Senkung des CO2-Verbrauchs war dagegen keins. Und wer für Strom, Telefon und Druckerpapier aufkommt, weiß noch niemand. // Ein anderer Freund spürt die Einbußen am eigenen Leib. Der Zuschlag für die Reisetätigkeit fällt weg. Das Homeoffice frisst die Freizeit auf. So sieht er sich plötzlich, schlimmer als zuvor, im Hamsterrad festsitzen. Er meint, die Arbeit von daheim sei extrem frustrierend. Ein Jobwechsel rückt perspektivlos in die Ferne. // Corona lässt manche schlechter schlafen. Der Gang hinaus ins Freie, wo Menschen sein könnten, wird bewusst abgewogen. Was früher als Umweg galt, ist nun notwendige Ausweiche. // Andere sind sorgloser. Sie lassen sich nicht einschränken. Wieder andere werden fahrlässig. Sie setzen sich über Regeln hinweg. Verteilen Speichel auf renitenten Stammtischen. Oder in privilegierten Klubräumen. // Ich selbst schwanke. Ich meide öffentliches Niesen, sehne mich zugleich nach uneingeschränktem Feiern. Ich wehre mich gegen unnötige Panikmache, stemple mein Umfeld aber zunehmend als lästige Infektionsquelle ab. // Die Kassiererin im Supermarkt wurde über Monate hinweg überraschend freundlich gegrüßt. Sie wurde ebenso überraschend mit politischen Botschaften umschwärmt. Das Grüßen lässt nun nach. Die Politik verstummt. Das WortGehaltserhöhung wird gemieden. Ein Bonus muss reichen. // Viel Applaus war lange hörbar. Oftmals war er herzerwärmend. Manchmal heuchlerisch. Einige hatten das Balkon-Applaudieren immer belächelt. Aus drei Fenstern in meiner Nachbarschaft ertönt dieser Ausdruck von Dankbarkeit immer noch unnachgiebig hartnäckig. Nur zaghaft ringe ich mich durch, mitzuklatschen. Als würde man plötzlich etwas psychisch Abnormes tun, so fühlt es sich an, was vor einigen Wochen standhafter Ausdruck gesellschaftlicher Teilhabe war. // Eine Freundin aus Berlin erzählt am Telefon, dass sie noch nie so oft Spazieren war, wie in diesen Tagen. Andere erzählen von sauberen Wohnungen, sauberen Fenstern. Andere von Einsamkeit. Wieder andere vom Ehepartner hinterm Plexiglas im Altenheim. Und wieder andere (sehr wenige in Österreich, sehr viele weltweit) erzählen die Geschichten des Sterbens durch Ersticken. // Gestern erzählte ein Mann vom Tod seines Kindes während des Shutdowns. Der Fünfjährige hatte Krebs. Auch diese Erzählung gibt es weiterhin, so wie früher. Sie erinnerte mich daran, dass meine eigene Situation mit Sicherheit kein Härtefall ist. // Und auch anderes wird nun erzählt: Ein Arbeitskollege eines Freundes ist über Tage hinweg trotz Fieber zur Arbeit erschienen. Er wollte, so seine Erklärung, vom Arzt nicht krank geschrieben und zum Verdachtsfall werden. Das hätte seinen ersehnten Sommerurlaub verhindert. Die Gefährdung des Umfelds habe der letztlich an Grippe Erkrankte in Kauf genommen. // Ein einfacher Schnupfen hat dagegen die Mitarbeiterin im Kindergarten meiner Tochter sehr rasch zum Verdachtsfall gemacht und für zwei Tage den gesamten Kindergarten lahmgelegt. Überraschenderweise mussten wir, als mögliche Mitinfizierte, nicht in Quarantäne. Es herrschte vielmehr allseits Ratlosigkeit, was in diesem Fall, der alles andere als unerwartet kam, zu tun sei. // In einer Schule war derweil folgendes passiert: Ein Vater, der sich seine Freiheit nicht nehmen lassen wollte, ist positiv getestet aus einem Gebiet zurückgekehrt, für das eigentlich eine Reisewarnung vorlag. Der ebenfalls infizierter Sohn ist noch tagelang zur Schule geschickt worden. Nun ist die Schule lahmgelegt, alle Familien sind in Quarantäne und um die Freiheit aller war es immer schon schlecht bestellt. // Anderswo passierte wieder anderes. Neue Worte sind gefallen (alt sind die Lügen darunter). // Zum Beispiel auch jene von den Schlachtbetrieben. Die Meldungen über die dortigen Virenausbrüche lassen uns endlich auch über die dortigen Zustände reden. Wir hätten schon davor darüber reden können, nur waren die Arbeitsbedingungen unterbezahlter Menschen aus dem Ausland, die für das Inland Tiere zerteilen, bislang keine Gefahr für uns. Auch die Bedingungen in Paketverteilungszentren (oder auch anderswo) waren bislang nichts, was wir als Problem einstuften. Und wenn die Sache wieder im Griff ist (wenn also nicht mehr darüber berichtet wird), verschwindet die ausbeuterische Wirklichkeit schnell unter der Decke bequemer Wohlstandsvergesslichkeit. // Und so geht es weiter. Wir bleiben wach. Wir halten die Zahlen im Auge. Wir achten auf den Abstand. Und manchmal auch aufeinander. Immer aber aufs Geld. Und die zweite Welle. Wir lernen dazu. Wie brüchig Gegenwart ist. Wie unzuverlässig Zukunft. Wie schnell Vergangenheit entsteht. // Vieles bleibt aber auch konstant. Wie man sich etwa seine unerträgliche Geschichte erspart. Man reißt sie ab (wie es in Braunau mit dem Geburtshaus Adolf Hitlers passiert). Oder man löscht den Chatverlauf.

 

(1. Juli 2020)


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